Wohnwunder auf Zeit

Ariadne im Kunstlabyrinth: In einem Bürogebäude im Marzili-Quartier hat die Künstlerin Chantal Michel dreissig leer stehende Räume in ein begehbares Gesamtkunstwerk verwandelt.

Unter den Füssen knistert es bei jedem Schritt, während man sich vorwagt in ein zeitloses Unbekanntes. Man reibt sich die Augen. Rundum ist nichts als Rosarot. Dazu dieser Bazooka-Geruch! Oder ist es eine olfaktorische Täuschung? Man fühlt sich wie in Zuckerwatte eingepackt. Und während man die zwei ausgebleichten Findlinge, die sich einem in den Weg stellen, auf ihre Festigkeit prüft, spürt man plötzlich, wie die Verunsicherung wächst.

In dieser Zelle gibt es kein Fenster weit und breit und keine Tür. Wie die zwei Skulpturen wohl hierhergekommen sind? Da, eine quadratische Lücke über der Fussleiste, ein Ausgang. Also in die Knie und kriechen. So muss sich Alice im Wunderland gefühlt haben, hinter der Wand geht das nächste Universum auf. Und das kann man hier gleich mehrere Male erleben.

Ganzheitlicher Kunstgenuss
Einmal steht man mitten in einem dunklen Kosmos und wird von bewegten Lichtpunkten umspült, dass es sich anfühlt, als flöge man durch einen Sternenhimmel. Man begegnet tanzenden und singenden Figuren, wispernden Zwillingen. Oder findet sich in einem atmosphärischen Esszimmer wieder, das einen in die Sechzigerjahre katapultiert. «Was möchtest du trinken?», fragt eine Stimme. Bevor man antworten kann, sitzt man auf einem der farbigen Stühle mit ihren steif abgespreizten Beinchen, umgeben von Vintage-Tapeten, Blumenvorhängen, Gummibaum und Nierentischchen. Man fühlt sich wie in einem Schöner-Wohnen-Salon aus vergangener Zeit. Da stimmt jedes Detail.

Selbst der bauchige Röhrenfernseher ist da. Das Video allerdings, das da in einer Endlosschlaufe flimmert, schlägt der eigenen Behaglichkeit ein Schnippchen. Auf einem Ohrensessel sitzt ein Skelett, das von dem Polstermöbel gefressen wird. Alles, was hier lebt, spielt, irritiert, hat Chantal Michel geschaffen – und sie ist auch Teil dieser Inszenierungen, die man Stunden später bereichert und staunend verlässt – im Bewusstsein, dass man länger geblieben ist, als man eigentlich geplant hat. Warum das so ist, dafür gibt es eine einfache Erklärung. Wenn Chantal Michel zum Kunstgenuss lädt, dann ist das eine Aufforderung an alle Sinne. Die Berner Medienkünstlerin zeigt ihre fantastische Arbeit nämlich nicht im Museum, sondern integriert sie in die geheimnisvolle Patina leer stehender, oft vom Abbruch bedrohter Räume, die ihr für eine bestimmte Zeit zur Verfügung gestellt werden. Da verwandelt sie sich selbst in eine Kunstfigur. Eine moderne Ariadne, die ihre Gäste persönlich durch ihr Kunstlabyrinth lotst, sie bekocht und in ihren umgestalteten Räumen übernachten lässt. Und natürlich kennt sie ihre Gäste aufgrund der obligaten Anmeldung alle namentlich – wie eine richtige Gastgeberin.

Neunmonatige Herkulesarbeit
Nach erfolgreichen Projekten im Schloss Kiesen, der Villa Gerber in Thun und der Zitadelle, einer ehemaligen Kirche in Zürich, hat sich die 48-jährige Multimediakünstlerin nun mit einem Bürohaus unter der Monbijou-Brücke auseinandergesetzt. 22 Jahre standen drei Stockwerke des Hauses am «Brückenkopf», in dem sich auch das Amt für Migration befindet, leer. In einer neunmonatigen Herkulesarbeit ist Chantal Michel den Innenräumen zu Leibe gerückt, hat Wände durchbrochen, Teppiche verlegt, tapeziert, gestrichen, möbliert und Zimmer für Zimmer den morbiden Charme des Sechzigerjahre-Baus neu belebt.

Ein guter Ort sei, sagt sie, «wenn es kribbelt». Ihre Arbeit gehe sie spontan an. «Ich erfahre einen Raum körperlich und stelle mich den Energien, die ein Ort ausstrahlt.» Das Körperliche hat in ihrem Schaffen einen hohen Stellenwert. Sie habe einst Tänzerin werden wollen, verrät die Künstlerin beim Rundgang. Doch sei es für sie ein Horror gewesen, sich selber in der Öffentlichkeit zu exponieren. «Videofiguren ermöglichen mir beides», sagt sie, «zu Hause im stillen Kämmerlein etwas zu kreieren und die bewegten Bilder dann ‹hinaus› zu schicken.» Wie hier im «Brückenkopf», wo man zahlreichen ihrer Figuren aus früheren Installationen wiederbegegnet. Die Räume wechseln, Chantal Michels Handschrift bleibt.

«Der Brückenkopf», Sandrainstrasse 12a, Bern
Ausstellung inkl. 4-Gang-Menü, jeden Samstag 18:30 Uhr.
Anmeldung obligatorisch unter Tel. 031 311 21 90.

Alibaba-Flohmarkt mit Objekten aus Chantal Michels Installationen, samstags 10 - 16 Uhr www.chantalmichel.ch

Marianne Mühlemann
Der Bund, 4. November 2016

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